Wissenschaftler entlarven Dehn-Mythen

23.08.2025 10:14
Vor oder nach dem Sport? Und wie lange? Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Ein internationales Forschungsteam hat nun Mythen aufgedeckt - und praktische Empfehlungen formuliert.
Von Katharina Ditschke, SWR
Unter Sportlern, Trainern und Therapeuten gibt es weit verbreitete Dehn-Rituale, die meist nach Glauben oder Hörensagen praktiziert werden. Etwa vor dem Laufen die Wade an einer Treppenstufe anzustellen, um darin die Dehnung zu spüren.
Jan Wilke von der Universität Bayreuth und sein 20-köpfiges, internationales Forschungsteam haben nun auf Basis aktueller wissenschaftlicher Evidenz Empfehlungen herausgegeben, die die Praxis des Stretchings vereinfachen sollen: Wann ist Dehnen sinnvoll, wann nicht? Wie lange soll man dehnen und mit welcher Technik?
Hierfür hat das Konsortium zunächst die aktuelle Studienlage recherchiert. Dabei wurden die Formulierungen und Empfehlungen unter den Fachleuten in mehreren Runden anonym diskutiert, bis ein deutlicher Konsens entstand.
Mythos 1: Dehnen korrigiert Fehlhaltungen
"Man hat diese alte Vorstellung, dass ein Muskel verkürzt ist oder zu viel Spannung hat. Dann dehne ich den einfach ein bisschen und meine Haltung wird besser. Das Dehnen kann man sich an der Stelle tatsächlich schenken", stellt Sportwissenschaftler Jan Wilke fest. Statt sich zu dehnen, solle man sich auf das Kräftigen der Muskeln konzentrieren.
Heißt: Wer beispielsweise einen Rundrücken hat, muss die Rückenmuskulatur kräftigen.
Mythos 2: Dehnen steigert die Beweglichkeit
Die Experten unterscheiden zwischen akuten und chronischen Effekten bei der Beweglichkeit. Akut heißt sofort, also zum Beispiel zum Aufwärmen. "Wir wissen, dass zur Steigerung der Beweglichkeit akut relativ kurze Dehndauern ausreichen - das heißt, dass sich die Effekte schon ab fünf Sekunden einstellen", so Wilke.
Die Empfehlung der Fachleute lautet: mindestens zwei Serien mit fünf bis 30 Sekunden Dauer. Die Dehntechnik - also ob statisch, dynamisch oder federnd, spiele keine Rolle, so das Forschungsteam. Wenn es darum ginge, langfristig die Beweglichkeit zu steigern, dürfe das Dehnen durchaus etwas länger sein.
Konkret werden mindestens vier Minuten statisches Dehnen in fünf Einheiten pro Woche empfohlen, um eine langfristige Wirkung zu erzielen. Allerdings gibt es Alternativen, die mindestens genauso effektiv sind, sagt Jan Wilke.
Faszien sind der Schlüssel
Das Forschungsteam ist sich einig: Wer beweglicher werden möchte, muss die Faszien bearbeiten, also die Bindegewebshülle, die den Muskel umgibt. Die haben mehr Schmerzrezeptoren als der Muskel selbst. Durch das Dehnen werden diese "Hülle" und der Muskel weicher. "Das heißt also, sich mit einer Faszienrolle auszurollen oder Selbstmassage ist genauso effektiv wie Dehnen oder auch Krafttraining", erklärt Sportwissenschaftler Wilke.
Denn auch Krafttraining steigert die Beweglichkeit. Wichtig sei, dass die Kraftübung über den gesamten Bewegungsumfang ausgeführt wird. Der Muskel wird dann unter Anspannung gedehnt und schließlich gekräftigt, beispielsweise beim Ablassen einer Hantel aus der Armbeuge, dem Bizepscurl.
Mythos 3: Dehnen senkt das allgemeine Verletzungsrisiko
Einige wenige Studien zeigen, dass Dehnen einen kleinen positiven Effekt in Bezug auf Muskelverletzungen haben könne, so Sportwissenschaftler Wilke. Wer sich übermäßig dehne, könne das Risiko für knöcherne Verletzungen und Gelenkverletzungen jedoch sogar erhöhen.
Denn: "Wenn ich dafür sorge, dass der Muskel geschmeidiger wird durch das Dehnen, dann lässt der mir vielleicht etwas mehr Bewegung zu. Und wenn ich dann eine Situation komme, wo der Muskel das eben zulässt, ich aber dann mein Gelenk in eine Position bringe, die möglicherweise ungünstig ist, dann würde das erklären, warum das Verletzungsrisiko kompensatorisch steigt", so Wilke.
Das könne man auch gut bei Sportlern beobachten, die Explosivkraft brauchen, wie etwa 100-Meter-Sprinter. Sie dehnen sich nicht, sondern hüpfen, um ihre Muskeln zu aktivieren, ergänzt Monika Lohkamp, Professorin für wissenschaftliches Arbeiten in der Physiotherapie an der SRH Heidelberg.
Dehnen in der Rehabilitation
Monika Lohkamp kann die Ergebnisse des Forschungsteams nachvollziehen. An der einen oder anderen Stelle hätte sie sich sogar noch mehr Details zur Dehndauer und dem Bewegungsausmaß gewünscht und betont: "Wichtig ist, dass diese Empfehlungen für gesunde Menschen sind. Wir Physiotherapeuten arbeiten natürlich mit Menschen, bei denen wir die Beweglichkeit nach einer Ruhigstellung, einem Bruch oder nach einer Verletzung wiederherstellen möchten. Dadurch sind andere Voraussetzungen gegeben und Dehnen sinnvoller", sagt Lohkamp.
Auch für Personen, die kein klassisches Kraft- oder Ausdauertraining durchführen können, kann Dehnen eine Alternative sein, um das Herz-Kreislauf-System gesund zu halten. Erste Studien belegen, dass statische Dehnübungen zwischen sieben und 15 Minuten bereits eine positive kardiovaskuläre Wirkung zeigen.
Dehnen als mentale Komponente
Was das Forschungsteam und auch Monika Lohkamp hervorheben, ist die psychische Komponente des Stretchings. Bei wem Dehnen ein Teil der sportlichen Routine ist oder einfach zu einem guten Wohlbefinden beiträgt, soll diese gerne beibehalten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Forschungsteams also, dass viele Effekte des Dehnens überbewertet wurden. Dennoch hat Stretching seine Berechtigung.
Vor oder nach dem Sport? Und wie lange? Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Ein internationales Forschungsteam hat nun Mythen aufgedeckt - und praktische Empfehlungen formuliert.
Von Katharina Ditschke, SWR
Unter Sportlern, Trainern und Therapeuten gibt es weit verbreitete Dehn-Rituale, die meist nach Glauben oder Hörensagen praktiziert werden. Etwa vor dem Laufen die Wade an einer Treppenstufe anzustellen, um darin die Dehnung zu spüren.
Jan Wilke von der Universität Bayreuth und sein 20-köpfiges, internationales Forschungsteam haben nun auf Basis aktueller wissenschaftlicher Evidenz Empfehlungen herausgegeben, die die Praxis des Stretchings vereinfachen sollen: Wann ist Dehnen sinnvoll, wann nicht? Wie lange soll man dehnen und mit welcher Technik?
Hierfür hat das Konsortium zunächst die aktuelle Studienlage recherchiert. Dabei wurden die Formulierungen und Empfehlungen unter den Fachleuten in mehreren Runden anonym diskutiert, bis ein deutlicher Konsens entstand.
Mythos 1: Dehnen korrigiert Fehlhaltungen
"Man hat diese alte Vorstellung, dass ein Muskel verkürzt ist oder zu viel Spannung hat. Dann dehne ich den einfach ein bisschen und meine Haltung wird besser. Das Dehnen kann man sich an der Stelle tatsächlich schenken", stellt Sportwissenschaftler Jan Wilke fest. Statt sich zu dehnen, solle man sich auf das Kräftigen der Muskeln konzentrieren.
Heißt: Wer beispielsweise einen Rundrücken hat, muss die Rückenmuskulatur kräftigen.
Mythos 2: Dehnen steigert die Beweglichkeit
Die Experten unterscheiden zwischen akuten und chronischen Effekten bei der Beweglichkeit. Akut heißt sofort, also zum Beispiel zum Aufwärmen. "Wir wissen, dass zur Steigerung der Beweglichkeit akut relativ kurze Dehndauern ausreichen - das heißt, dass sich die Effekte schon ab fünf Sekunden einstellen", so Wilke.
Die Empfehlung der Fachleute lautet: mindestens zwei Serien mit fünf bis 30 Sekunden Dauer. Die Dehntechnik - also ob statisch, dynamisch oder federnd, spiele keine Rolle, so das Forschungsteam. Wenn es darum ginge, langfristig die Beweglichkeit zu steigern, dürfe das Dehnen durchaus etwas länger sein.
Konkret werden mindestens vier Minuten statisches Dehnen in fünf Einheiten pro Woche empfohlen, um eine langfristige Wirkung zu erzielen. Allerdings gibt es Alternativen, die mindestens genauso effektiv sind, sagt Jan Wilke.
Faszien sind der Schlüssel
Das Forschungsteam ist sich einig: Wer beweglicher werden möchte, muss die Faszien bearbeiten, also die Bindegewebshülle, die den Muskel umgibt. Die haben mehr Schmerzrezeptoren als der Muskel selbst. Durch das Dehnen werden diese "Hülle" und der Muskel weicher. "Das heißt also, sich mit einer Faszienrolle auszurollen oder Selbstmassage ist genauso effektiv wie Dehnen oder auch Krafttraining", erklärt Sportwissenschaftler Wilke.
Denn auch Krafttraining steigert die Beweglichkeit. Wichtig sei, dass die Kraftübung über den gesamten Bewegungsumfang ausgeführt wird. Der Muskel wird dann unter Anspannung gedehnt und schließlich gekräftigt, beispielsweise beim Ablassen einer Hantel aus der Armbeuge, dem Bizepscurl.
Mythos 3: Dehnen senkt das allgemeine Verletzungsrisiko
Einige wenige Studien zeigen, dass Dehnen einen kleinen positiven Effekt in Bezug auf Muskelverletzungen haben könne, so Sportwissenschaftler Wilke. Wer sich übermäßig dehne, könne das Risiko für knöcherne Verletzungen und Gelenkverletzungen jedoch sogar erhöhen.
Denn: "Wenn ich dafür sorge, dass der Muskel geschmeidiger wird durch das Dehnen, dann lässt der mir vielleicht etwas mehr Bewegung zu. Und wenn ich dann eine Situation komme, wo der Muskel das eben zulässt, ich aber dann mein Gelenk in eine Position bringe, die möglicherweise ungünstig ist, dann würde das erklären, warum das Verletzungsrisiko kompensatorisch steigt", so Wilke.
Das könne man auch gut bei Sportlern beobachten, die Explosivkraft brauchen, wie etwa 100-Meter-Sprinter. Sie dehnen sich nicht, sondern hüpfen, um ihre Muskeln zu aktivieren, ergänzt Monika Lohkamp, Professorin für wissenschaftliches Arbeiten in der Physiotherapie an der SRH Heidelberg.
Dehnen in der Rehabilitation
Monika Lohkamp kann die Ergebnisse des Forschungsteams nachvollziehen. An der einen oder anderen Stelle hätte sie sich sogar noch mehr Details zur Dehndauer und dem Bewegungsausmaß gewünscht und betont: "Wichtig ist, dass diese Empfehlungen für gesunde Menschen sind. Wir Physiotherapeuten arbeiten natürlich mit Menschen, bei denen wir die Beweglichkeit nach einer Ruhigstellung, einem Bruch oder nach einer Verletzung wiederherstellen möchten. Dadurch sind andere Voraussetzungen gegeben und Dehnen sinnvoller", sagt Lohkamp.
Auch für Personen, die kein klassisches Kraft- oder Ausdauertraining durchführen können, kann Dehnen eine Alternative sein, um das Herz-Kreislauf-System gesund zu halten. Erste Studien belegen, dass statische Dehnübungen zwischen sieben und 15 Minuten bereits eine positive kardiovaskuläre Wirkung zeigen.
Dehnen als mentale Komponente
Was das Forschungsteam und auch Monika Lohkamp hervorheben, ist die psychische Komponente des Stretchings. Bei wem Dehnen ein Teil der sportlichen Routine ist oder einfach zu einem guten Wohlbefinden beiträgt, soll diese gerne beibehalten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Forschungsteams also, dass viele Effekte des Dehnens überbewertet wurden. Dennoch hat Stretching seine Berechtigung.
Vor oder nach dem Sport? Und wie lange? Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Ein internationales Forschungsteam hat nun Mythen aufgedeckt - und praktische Empfehlungen formuliert.
Von Katharina Ditschke, SWR
Unter Sportlern, Trainern und Therapeuten gibt es weit verbreitete Dehn-Rituale, die meist nach Glauben oder Hörensagen praktiziert werden. Etwa vor dem Laufen die Wade an einer Treppenstufe anzustellen, um darin die Dehnung zu spüren.
Jan Wilke von der Universität Bayreuth und sein 20-köpfiges, internationales Forschungsteam haben nun auf Basis aktueller wissenschaftlicher Evidenz Empfehlungen herausgegeben, die die Praxis des Stretchings vereinfachen sollen: Wann ist Dehnen sinnvoll, wann nicht? Wie lange soll man dehnen und mit welcher Technik?
Hierfür hat das Konsortium zunächst die aktuelle Studienlage recherchiert. Dabei wurden die Formulierungen und Empfehlungen unter den Fachleuten in mehreren Runden anonym diskutiert, bis ein deutlicher Konsens entstand.
Mythos 1: Dehnen korrigiert Fehlhaltungen
"Man hat diese alte Vorstellung, dass ein Muskel verkürzt ist oder zu viel Spannung hat. Dann dehne ich den einfach ein bisschen und meine Haltung wird besser. Das Dehnen kann man sich an der Stelle tatsächlich schenken", stellt Sportwissenschaftler Jan Wilke fest. Statt sich zu dehnen, solle man sich auf das Kräftigen der Muskeln konzentrieren.
Heißt: Wer beispielsweise einen Rundrücken hat, muss die Rückenmuskulatur kräftigen.
Mythos 2: Dehnen steigert die Beweglichkeit
Die Experten unterscheiden zwischen akuten und chronischen Effekten bei der Beweglichkeit. Akut heißt sofort, also zum Beispiel zum Aufwärmen. "Wir wissen, dass zur Steigerung der Beweglichkeit akut relativ kurze Dehndauern ausreichen - das heißt, dass sich die Effekte schon ab fünf Sekunden einstellen", so Wilke.
Die Empfehlung der Fachleute lautet: mindestens zwei Serien mit fünf bis 30 Sekunden Dauer. Die Dehntechnik - also ob statisch, dynamisch oder federnd, spiele keine Rolle, so das Forschungsteam. Wenn es darum ginge, langfristig die Beweglichkeit zu steigern, dürfe das Dehnen durchaus etwas länger sein.
Konkret werden mindestens vier Minuten statisches Dehnen in fünf Einheiten pro Woche empfohlen, um eine langfristige Wirkung zu erzielen. Allerdings gibt es Alternativen, die mindestens genauso effektiv sind, sagt Jan Wilke.
Faszien sind der Schlüssel
Das Forschungsteam ist sich einig: Wer beweglicher werden möchte, muss die Faszien bearbeiten, also die Bindegewebshülle, die den Muskel umgibt. Die haben mehr Schmerzrezeptoren als der Muskel selbst. Durch das Dehnen werden diese "Hülle" und der Muskel weicher. "Das heißt also, sich mit einer Faszienrolle auszurollen oder Selbstmassage ist genauso effektiv wie Dehnen oder auch Krafttraining", erklärt Sportwissenschaftler Wilke.
Denn auch Krafttraining steigert die Beweglichkeit. Wichtig sei, dass die Kraftübung über den gesamten Bewegungsumfang ausgeführt wird. Der Muskel wird dann unter Anspannung gedehnt und schließlich gekräftigt, beispielsweise beim Ablassen einer Hantel aus der Armbeuge, dem Bizepscurl.
Mythos 3: Dehnen senkt das allgemeine Verletzungsrisiko
Einige wenige Studien zeigen, dass Dehnen einen kleinen positiven Effekt in Bezug auf Muskelverletzungen haben könne, so Sportwissenschaftler Wilke. Wer sich übermäßig dehne, könne das Risiko für knöcherne Verletzungen und Gelenkverletzungen jedoch sogar erhöhen.
Denn: "Wenn ich dafür sorge, dass der Muskel geschmeidiger wird durch das Dehnen, dann lässt der mir vielleicht etwas mehr Bewegung zu. Und wenn ich dann eine Situation komme, wo der Muskel das eben zulässt, ich aber dann mein Gelenk in eine Position bringe, die möglicherweise ungünstig ist, dann würde das erklären, warum das Verletzungsrisiko kompensatorisch steigt", so Wilke.
Das könne man auch gut bei Sportlern beobachten, die Explosivkraft brauchen, wie etwa 100-Meter-Sprinter. Sie dehnen sich nicht, sondern hüpfen, um ihre Muskeln zu aktivieren, ergänzt Monika Lohkamp, Professorin für wissenschaftliches Arbeiten in der Physiotherapie an der SRH Heidelberg.
Dehnen in der Rehabilitation
Monika Lohkamp kann die Ergebnisse des Forschungsteams nachvollziehen. An der einen oder anderen Stelle hätte sie sich sogar noch mehr Details zur Dehndauer und dem Bewegungsausmaß gewünscht und betont: "Wichtig ist, dass diese Empfehlungen für gesunde Menschen sind. Wir Physiotherapeuten arbeiten natürlich mit Menschen, bei denen wir die Beweglichkeit nach einer Ruhigstellung, einem Bruch oder nach einer Verletzung wiederherstellen möchten. Dadurch sind andere Voraussetzungen gegeben und Dehnen sinnvoller", sagt Lohkamp.
Auch für Personen, die kein klassisches Kraft- oder Ausdauertraining durchführen können, kann Dehnen eine Alternative sein, um das Herz-Kreislauf-System gesund zu halten. Erste Studien belegen, dass statische Dehnübungen zwischen sieben und 15 Minuten bereits eine positive kardiovaskuläre Wirkung zeigen.
Dehnen als mentale Komponente
Was das Forschungsteam und auch Monika Lohkamp hervorheben, ist die psychische Komponente des Stretchings. Bei wem Dehnen ein Teil der sportlichen Routine ist oder einfach zu einem guten Wohlbefinden beiträgt, soll diese gerne beibehalten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Forschungsteams also, dass viele Effekte des Dehnens überbewertet wurden. Dennoch hat Stretching seine Berechtigung.
Vor oder nach dem Sport? Und wie lange? Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Ein internationales Forschungsteam hat nun Mythen aufgedeckt - und praktische Empfehlungen formuliert.
Von Katharina Ditschke, SWR
Unter Sportlern, Trainern und Therapeuten gibt es weit verbreitete Dehn-Rituale, die meist nach Glauben oder Hörensagen praktiziert werden. Etwa vor dem Laufen die Wade an einer Treppenstufe anzustellen, um darin die Dehnung zu spüren.
Jan Wilke von der Universität Bayreuth und sein 20-köpfiges, internationales Forschungsteam haben nun auf Basis aktueller wissenschaftlicher Evidenz Empfehlungen herausgegeben, die die Praxis des Stretchings vereinfachen sollen: Wann ist Dehnen sinnvoll, wann nicht? Wie lange soll man dehnen und mit welcher Technik?
Hierfür hat das Konsortium zunächst die aktuelle Studienlage recherchiert. Dabei wurden die Formulierungen und Empfehlungen unter den Fachleuten in mehreren Runden anonym diskutiert, bis ein deutlicher Konsens entstand.
Mythos 1: Dehnen korrigiert Fehlhaltungen
"Man hat diese alte Vorstellung, dass ein Muskel verkürzt ist oder zu viel Spannung hat. Dann dehne ich den einfach ein bisschen und meine Haltung wird besser. Das Dehnen kann man sich an der Stelle tatsächlich schenken", stellt Sportwissenschaftler Jan Wilke fest. Statt sich zu dehnen, solle man sich auf das Kräftigen der Muskeln konzentrieren.
Heißt: Wer beispielsweise einen Rundrücken hat, muss die Rückenmuskulatur kräftigen.
Mythos 2: Dehnen steigert die Beweglichkeit
Die Experten unterscheiden zwischen akuten und chronischen Effekten bei der Beweglichkeit. Akut heißt sofort, also zum Beispiel zum Aufwärmen. "Wir wissen, dass zur Steigerung der Beweglichkeit akut relativ kurze Dehndauern ausreichen - das heißt, dass sich die Effekte schon ab fünf Sekunden einstellen", so Wilke.
Die Empfehlung der Fachleute lautet: mindestens zwei Serien mit fünf bis 30 Sekunden Dauer. Die Dehntechnik - also ob statisch, dynamisch oder federnd, spiele keine Rolle, so das Forschungsteam. Wenn es darum ginge, langfristig die Beweglichkeit zu steigern, dürfe das Dehnen durchaus etwas länger sein.
Konkret werden mindestens vier Minuten statisches Dehnen in fünf Einheiten pro Woche empfohlen, um eine langfristige Wirkung zu erzielen. Allerdings gibt es Alternativen, die mindestens genauso effektiv sind, sagt Jan Wilke.
Faszien sind der Schlüssel
Das Forschungsteam ist sich einig: Wer beweglicher werden möchte, muss die Faszien bearbeiten, also die Bindegewebshülle, die den Muskel umgibt. Die haben mehr Schmerzrezeptoren als der Muskel selbst. Durch das Dehnen werden diese "Hülle" und der Muskel weicher. "Das heißt also, sich mit einer Faszienrolle auszurollen oder Selbstmassage ist genauso effektiv wie Dehnen oder auch Krafttraining", erklärt Sportwissenschaftler Wilke.
Denn auch Krafttraining steigert die Beweglichkeit. Wichtig sei, dass die Kraftübung über den gesamten Bewegungsumfang ausgeführt wird. Der Muskel wird dann unter Anspannung gedehnt und schließlich gekräftigt, beispielsweise beim Ablassen einer Hantel aus der Armbeuge, dem Bizepscurl.
Mythos 3: Dehnen senkt das allgemeine Verletzungsrisiko
Einige wenige Studien zeigen, dass Dehnen einen kleinen positiven Effekt in Bezug auf Muskelverletzungen haben könne, so Sportwissenschaftler Wilke. Wer sich übermäßig dehne, könne das Risiko für knöcherne Verletzungen und Gelenkverletzungen jedoch sogar erhöhen.
Denn: "Wenn ich dafür sorge, dass der Muskel geschmeidiger wird durch das Dehnen, dann lässt der mir vielleicht etwas mehr Bewegung zu. Und wenn ich dann eine Situation komme, wo der Muskel das eben zulässt, ich aber dann mein Gelenk in eine Position bringe, die möglicherweise ungünstig ist, dann würde das erklären, warum das Verletzungsrisiko kompensatorisch steigt", so Wilke.
Das könne man auch gut bei Sportlern beobachten, die Explosivkraft brauchen, wie etwa 100-Meter-Sprinter. Sie dehnen sich nicht, sondern hüpfen, um ihre Muskeln zu aktivieren, ergänzt Monika Lohkamp, Professorin für wissenschaftliches Arbeiten in der Physiotherapie an der SRH Heidelberg.
Dehnen in der Rehabilitation
Monika Lohkamp kann die Ergebnisse des Forschungsteams nachvollziehen. An der einen oder anderen Stelle hätte sie sich sogar noch mehr Details zur Dehndauer und dem Bewegungsausmaß gewünscht und betont: "Wichtig ist, dass diese Empfehlungen für gesunde Menschen sind. Wir Physiotherapeuten arbeiten natürlich mit Menschen, bei denen wir die Beweglichkeit nach einer Ruhigstellung, einem Bruch oder nach einer Verletzung wiederherstellen möchten. Dadurch sind andere Voraussetzungen gegeben und Dehnen sinnvoller", sagt Lohkamp.
Auch für Personen, die kein klassisches Kraft- oder Ausdauertraining durchführen können, kann Dehnen eine Alternative sein, um das Herz-Kreislauf-System gesund zu halten. Erste Studien belegen, dass statische Dehnübungen zwischen sieben und 15 Minuten bereits eine positive kardiovaskuläre Wirkung zeigen.
Dehnen als mentale Komponente
Was das Forschungsteam und auch Monika Lohkamp hervorheben, ist die psychische Komponente des Stretchings. Bei wem Dehnen ein Teil der sportlichen Routine ist oder einfach zu einem guten Wohlbefinden beiträgt, soll diese gerne beibehalten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Forschungsteams also, dass viele Effekte des Dehnens überbewertet wurden. Dennoch hat Stretching seine Berechtigung.
Vor oder nach dem Sport? Und wie lange? Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Ein internationales Forschungsteam hat nun Mythen aufgedeckt - und praktische Empfehlungen formuliert.
Von Katharina Ditschke, SWR
Unter Sportlern, Trainern und Therapeuten gibt es weit verbreitete Dehn-Rituale, die meist nach Glauben oder Hörensagen praktiziert werden. Etwa vor dem Laufen die Wade an einer Treppenstufe anzustellen, um darin die Dehnung zu spüren.
Jan Wilke von der Universität Bayreuth und sein 20-köpfiges, internationales Forschungsteam haben nun auf Basis aktueller wissenschaftlicher Evidenz Empfehlungen herausgegeben, die die Praxis des Stretchings vereinfachen sollen: Wann ist Dehnen sinnvoll, wann nicht? Wie lange soll man dehnen und mit welcher Technik?
Hierfür hat das Konsortium zunächst die aktuelle Studienlage recherchiert. Dabei wurden die Formulierungen und Empfehlungen unter den Fachleuten in mehreren Runden anonym diskutiert, bis ein deutlicher Konsens entstand.
Mythos 1: Dehnen korrigiert Fehlhaltungen
"Man hat diese alte Vorstellung, dass ein Muskel verkürzt ist oder zu viel Spannung hat. Dann dehne ich den einfach ein bisschen und meine Haltung wird besser. Das Dehnen kann man sich an der Stelle tatsächlich schenken", stellt Sportwissenschaftler Jan Wilke fest. Statt sich zu dehnen, solle man sich auf das Kräftigen der Muskeln konzentrieren.
Heißt: Wer beispielsweise einen Rundrücken hat, muss die Rückenmuskulatur kräftigen.
Mythos 2: Dehnen steigert die Beweglichkeit
Die Experten unterscheiden zwischen akuten und chronischen Effekten bei der Beweglichkeit. Akut heißt sofort, also zum Beispiel zum Aufwärmen. "Wir wissen, dass zur Steigerung der Beweglichkeit akut relativ kurze Dehndauern ausreichen - das heißt, dass sich die Effekte schon ab fünf Sekunden einstellen", so Wilke.
Die Empfehlung der Fachleute lautet: mindestens zwei Serien mit fünf bis 30 Sekunden Dauer. Die Dehntechnik - also ob statisch, dynamisch oder federnd, spiele keine Rolle, so das Forschungsteam. Wenn es darum ginge, langfristig die Beweglichkeit zu steigern, dürfe das Dehnen durchaus etwas länger sein.
Konkret werden mindestens vier Minuten statisches Dehnen in fünf Einheiten pro Woche empfohlen, um eine langfristige Wirkung zu erzielen. Allerdings gibt es Alternativen, die mindestens genauso effektiv sind, sagt Jan Wilke.
Faszien sind der Schlüssel
Das Forschungsteam ist sich einig: Wer beweglicher werden möchte, muss die Faszien bearbeiten, also die Bindegewebshülle, die den Muskel umgibt. Die haben mehr Schmerzrezeptoren als der Muskel selbst. Durch das Dehnen werden diese "Hülle" und der Muskel weicher. "Das heißt also, sich mit einer Faszienrolle auszurollen oder Selbstmassage ist genauso effektiv wie Dehnen oder auch Krafttraining", erklärt Sportwissenschaftler Wilke.
Denn auch Krafttraining steigert die Beweglichkeit. Wichtig sei, dass die Kraftübung über den gesamten Bewegungsumfang ausgeführt wird. Der Muskel wird dann unter Anspannung gedehnt und schließlich gekräftigt, beispielsweise beim Ablassen einer Hantel aus der Armbeuge, dem Bizepscurl.
Mythos 3: Dehnen senkt das allgemeine Verletzungsrisiko
Einige wenige Studien zeigen, dass Dehnen einen kleinen positiven Effekt in Bezug auf Muskelverletzungen haben könne, so Sportwissenschaftler Wilke. Wer sich übermäßig dehne, könne das Risiko für knöcherne Verletzungen und Gelenkverletzungen jedoch sogar erhöhen.
Denn: "Wenn ich dafür sorge, dass der Muskel geschmeidiger wird durch das Dehnen, dann lässt der mir vielleicht etwas mehr Bewegung zu. Und wenn ich dann eine Situation komme, wo der Muskel das eben zulässt, ich aber dann mein Gelenk in eine Position bringe, die möglicherweise ungünstig ist, dann würde das erklären, warum das Verletzungsrisiko kompensatorisch steigt", so Wilke.
Das könne man auch gut bei Sportlern beobachten, die Explosivkraft brauchen, wie etwa 100-Meter-Sprinter. Sie dehnen sich nicht, sondern hüpfen, um ihre Muskeln zu aktivieren, ergänzt Monika Lohkamp, Professorin für wissenschaftliches Arbeiten in der Physiotherapie an der SRH Heidelberg.
Dehnen in der Rehabilitation
Monika Lohkamp kann die Ergebnisse des Forschungsteams nachvollziehen. An der einen oder anderen Stelle hätte sie sich sogar noch mehr Details zur Dehndauer und dem Bewegungsausmaß gewünscht und betont: "Wichtig ist, dass diese Empfehlungen für gesunde Menschen sind. Wir Physiotherapeuten arbeiten natürlich mit Menschen, bei denen wir die Beweglichkeit nach einer Ruhigstellung, einem Bruch oder nach einer Verletzung wiederherstellen möchten. Dadurch sind andere Voraussetzungen gegeben und Dehnen sinnvoller", sagt Lohkamp.
Auch für Personen, die kein klassisches Kraft- oder Ausdauertraining durchführen können, kann Dehnen eine Alternative sein, um das Herz-Kreislauf-System gesund zu halten. Erste Studien belegen, dass statische Dehnübungen zwischen sieben und 15 Minuten bereits eine positive kardiovaskuläre Wirkung zeigen.
Dehnen als mentale Komponente
Was das Forschungsteam und auch Monika Lohkamp hervorheben, ist die psychische Komponente des Stretchings. Bei wem Dehnen ein Teil der sportlichen Routine ist oder einfach zu einem guten Wohlbefinden beiträgt, soll diese gerne beibehalten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Forschungsteams also, dass viele Effekte des Dehnens überbewertet wurden. Dennoch hat Stretching seine Berechtigung.